Zurück im Land meiner Kindheit
Nicht nur der Regenwald ist verschwunden
1937 mussten meine Eltern und alle Familien, mit denen sie in brüderlicher Gemeinschaft zusammenlebten, zuerst Deutschland und dann - als der Zweite Weltkrieg ausbrach - auch England verlassen. Sie waren in keinem der kriegführenden Länder willkommen, weil sie daran glaubten, dass Krieg und jede Art von Gewalt falsch sind und dass die einzige Antwort auf die Probleme der Welt ein Zusammenleben in brüderlicher Gemeinschaft ist. Das mag sehr einfach klingen, aber sie setzten ihr Leben dafür ein um zu beweisen, dass dies tatsächlich möglich ist.
Während der ersten zwei Jahre des Zweiten Weltkriegs hatten sie verzweifelt nach einem Land gesucht, das sie aufnehmen würde, nachdem sie auch in England nicht mehr zusammen bleiben konnten. Das einzige Land, das ihnen diese Möglichkeit bot, war Paraguay, ein Binnenland im Zentrum von Südamerika. Meine Eltern und ihre Glaubensgeschwister hatten keine Ahnung, wo Paraguay lag, und sie mussten zuerst im Atlas danach suchen. Und je mehr sie über dieses seltsame Land erfuhren, desto mehr wurde ihnen klar, dass hier nichts so sein würde, wie in Europa.
Im Winter 1940/41 reisten sie nach Paraguay. Es war eine gefährliche Reise, denn die deutschen Unterseeboote versenkten ein Schiff der Alliierten nach dem anderen. Doch das Schiff, auf dem meine Familie reiste, kam sicher in Südamerika an. Es wurde aber später ebenfalls versenkt.
Das raue subtropische Klima, das Überhandnehmen tropischer Krankheiten, Insekten und Giftschlangen, die Armut des Landes sowie die Abgeschiedenheit von jeglicher Zivilisation, machten das Leben für die Neulinge außerordentlich schwierig. Ich selbst war ein halbes Jahr alt, als wir dort ankamen, und viele Säuglinge starben bald nach der Ankunft, meistens als Folge von Krankheiten, die man heute mit Antibiotika oder anderen Mitteln heilen könnte.
Nachdem einige notdürftige Unterkünfte errichtet worden waren, ging man nun an die Riesenaufgabe, alles für eine dauernde Gemeinschaft aufzubauen. Das Land musste urbar gemacht und bestellt werden, Brunnen waren zu graben, Häuser und Wege mussten gebaut werden. Es dauerte Jahre, bis das Ende abzusehen war, und in den vierzehn Jahren, die ich in Paraguay lebte, hob sich unser Lebensstandard kaum über das Allernotwendigste.
Doch für mich, meine Geschwister und unsere Klassenkameraden war es eine Kindheit wie im Paradies, und wir würden sie gegen nichts getauscht haben. Natürlich gab es Entbehrungen, aber wir empfanden sie nicht als solche; ich glaube im Gegenteil, dass wir ihnen Rückgrat und Standfestigkeit zu verdanken haben. Außerdem war die Natur in Paraguay von so überwältigender Schönheit, wie ich sie seither niemals wieder erlebt habe. Unser Farmland bestand zumeist aus campo (Grasland), unterbrochen von vielen Hektar Urwald. Die Bäume und Blumen waren unglaublich schön, ebenso wie das Tierleben: Affen, Mähnenwölfe, Strauße , Papageien, Schmetterlinge, Riesenfrösche und viele andere seltene Tiere, die für uns selbstverständlich waren. Die nächste Stadt, in der es Elektrizität gab, war viele hundert Kilometer entfernt. Der Nachthimmel war wunderbar und die Sterne so unglaublich leuchtend, dass man es kaum beschreiben kann.
Es war ein Land der Gegensätze. 1941 schrieb meine Tante Edith:
Dieses Land hat eine unglaubliche Wirkung auf mich; es wirkt fast wie Wein. Ich liebe diese Gegensätze zwischen heiß und kalt, zwischen der überwältigenden Schönheit und den schrecklichen Insekten. Hier gibt es keine halben Sachen, und das liebe ich. Der Sternenhimmel ist so wunderbar. Man muss sich an Gottes vollkommener Schöpfung freuen.
Nur einige Jahre später starb Edith an einem durchgebrochenen Blinddarm - ein Opfer der primitiven Zustände und des Mangels an medizinischer Versorgung. Sie war zweiunddreißig Jahre alt und hinterließ vier kleine Kinder.
1954, mit vierzehn Jahren, zog ich mit meiner Familie in die USA. Wir lebten im Staat New York. Ich ging zur Oberschule und ins College, heiratete und wurde amerikanischer Staatsbürger, wie auch meine Frau Verena, die ebenfalls in Paraguay aufgewachsen war. Hier sind wir für vieles sehr dankbar geworden. Seit fünfzig Jahren waren wir niemals wieder in Paraguay, und wir hätten es nicht für möglich gehalten, das Land unserer Kindheit wiederzusehen.
Dann plötzlich, vor vier Wochen, ergab sich die unerwartete Möglichkeit, Asunción, die Hauptstadt von Paraguay, und das Farmland, auf dem wir aufgewachsen waren, zu besuchen. Wir reisten mit Freunden, die niemals zuvor in Südamerika gewesen waren. So waren wir alle voller Erwartung, und wir hofften, ihnen die Schönheit des Landes und die einfachen Freuden des paraguayischen Lebens zeigen zu können.
Wir waren zutiefst enttäuscht. Die Seele Paraguays ist einem tödlichen Angriff zum Opfer gefallen, der die ganze Nation zerstört. Als wir Kinder waren, gab es nur drei verschiedene Verkehrsarten: entweder musste man zu Fuß laufen, reiten oder in einem Pferdewagen fahren. Jetzt gibt es da mehrspurige Autobahnen und Brücken, und gewaltige Stromleitungen durchziehen das Land.
Als ich ein Junge war, liebte ich es, den Gouchos - den südamerikanischen Cowboys - zuzusehen. Heute sind die meisten Pferde durch Geländewagen und Motorräder ersetzt worden. Der Urwald meiner Kindheit ist völlig verschwunden, zusammen mit all seiner Tier- und Pflanzenwelt. Stattdessen gibt es riesige eingezäunte Areale, in denen Rinder für den Fleischbedarf von McDonalds und anderen multinationalen Unternehmen gezogen werden.
Die verschmutzten Flüsse entziehen der örtlichen Fischindustrie die Lebensgrundlage; Supermärkte bieten Nahrungsmittel in Plastikbehältern an und ersetzen die kleinen Straßenhändler, denen so der Lebensunterhalt verloren geht. Maté, der einheimische Kräutertee, ist der zähnezerstörenden Coca-Cola gewichen, und in den Straßen der Hauptstadt, in denen einst der Gesang einheimischer Straßensänger widerhallte, dröhnt jetzt Popmusik.
In nur fünfzig Jahren ist unter den Schlagwörtern "Fortschritt" und "Erfolg" eine Kultur zerstört worden, die Jahrhunderte lang Bestand hatte. Wieder einmal hat die westliche Kultur mit all ihrer Geld- und Machtgier, ihrem Materialismus und Egoismus, eine Nation erobert, die durch Einfachheit und Mitmenschlichkeit gekennzeichnet war. Wir haben dem paraguayischen Volk nicht nur unsere Kultur exportiert, sondern sie aufgedrängt - unter dem Vorwand, ihnen Demokratie statt Diktatur zu bringen.
Es stimmt ja, dass Paraguay eine lange Geschichte der Diktatur hinter sich hat und dass heute das Land demokratisch regiert wird - zumindest in der Theorie. Ich lebte unter Alfredo Stroessner, einem Diktator, der fast dreißig Jahre lang die Macht in Paraguay innehatte. Ich bin kein Befürworter von Diktatur, und ich danke Gott dafür, dass ich in einem demokratischen Land leben kann. Und doch kann ich manchmal nicht mehr erkennen, wo hier eigentlich noch der Unterschied liegt. Beiden Systemen liegt der Kapitalismus zugrunde, und beide werden vom Hunger nach Macht bestimmt. Ich bin überzeugt davon, dass selbst auf der mächtigsten Regierung unserer Welt kein Segen liegt, wenn nicht die Würde jedes unter ihr lebenden Menschen anerkannt und respektiert wird.
Die Geschichte Paraguays ist keine Ausnahme. Auf unseren Reisen haben meine Frau und ich dasselbe in anderen lateinamerikanischen Ländern wie auch in Afrika, Asien, im Mittleren Osten und in Europa erlebt. Es ist alles eine Frucht der Globalisierung, die die Welt zunehmend unterminiert, indem die Kluft zwischen den Besitzenden und den Nicht-Besitzenden immer tiefer wird. Sie versklavt ganze Nationen, damit wir, die wir in der "Ersten Welt" leben, unseren luxuriösen Lebensstandard aufrecht erhalten können. Aber selbst, wenn wir das irgendwie rechtfertigen wollen, graben wir letztlich doch unsere eigenen Gräber.
Einer meiner Freunde hat einen Anstecker, auf dem steht: "Lebe einfach, damit andere einfach leben können." Seit ich von Paraguay zurück bin, muss ich des öfteren an diesen Spruch denken. Diese Welt gehört uns nicht. Sie gehört Gott und unseren Kindern. Wir sind Weltenbürger - Bewohner dieser Erde, ganz gleich, ob wir uns als solche erkennen oder nicht. Als solche müssen wir mit den Schätzen der Welt verantwortlich umgehen. Natürlich ist der größte Schatz für eine Nation ihre Bevölkerung. Lasst uns danach streben, in Frieden und Gerechtigkeit mit allen Menschen zu leben. Es ist der einzige Weg zum wahren Menschentum.
| Johann Christoph Arnold |
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Weltenbürger
Wir sind Weltenbürger - Bewohner dieser Erde, ganz gleich, ob wir uns als solche erkennen oder nicht. Als solche müssen wir mit den Schätzen der Welt verantwortlich umgehen. Lasst uns danach streben, in Frieden und Gerechtigkeit mit allen Menschen zu leben. Es ist der einzige Weg zum wahren Menschentum.
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